Das Bild

Ch’en Shun

 

Märchen aus China

Es lebte einmal ein Bauer mit einer guten Frau. Sie war nicht nur tüchtig bei der Arbeit, sondern auch sehr schön.

Sie hatten zwei Kinder und waren sehr arm. Schon bei Morgengrauen standen sie zur Arbeit auf und legten sich erst um Mitternacht wieder schlafen. Trotz ihrer Armut lebten sie froh und einträchtig zusammen.

Ihr Glück dauerte so lange, bis der reiche Dschang die schöne Frau sah. Dieser Dschang war der Militärmandarin des Nachbardorfes. Er besaß Geld und Macht, und niemand wagte es, sich ihm zu widersetzen.

Eines Morgens ritt er mit seinem Gefolge an dem Brunnen vorbei, wo die Frau gerade Wasser schöpfte. Als er ihre Schönheit sah, wollte er sie sofort besitzen. Er machte eine Handbewegung und befahl: „Mitnehmen!“, und sogleich wurde sie ergriffen und fortgeschleppt. Die Kinder weinten, und dem Bauern war es, als würde sein Herz zerschnitten.

Am nächsten Morgen fand er seine Frau im Felde liegend. Sie bewegte sich nicht. Er legte seine Hand auf ihr Herz, aber es schlug nicht mehr.

Da wickelte er sie in eine Binsenmatte, trug sie auf seinen Armen fort und begrub sie noch am selben Tag. Seitdem riefen die Kinder nach ihrer Mutter Tag und Nacht. Der Bauer musste zu Hause bleiben und konnte sein Feld nicht mehr bestellen. Das Leben schien stillzustehen.

Eines Abends stand plötzlich ein alter Mann vor der Tür. Sein grauer Bart hing ihm weit über die Brust herab. Seine Kleider waren zerrissen, aber seine Augen waren voller Güte. Er trat geradewegs ins Zimmer.

„Die Kinder weinen ja, dass es einen jammern kann! Was ist denn geschehen?“

Der Bauer seufzte und dann erzählte er dem Alten die ganze Geschichte.

„So ist das also“ nickte der Alte. Weiter sagte er nichts.

Er setzte sich auf das Ofenbrett, holte ein Blatt Papier und einen Pinsel hervor, strich das Papier glatt, schlug die Beine unter und fragte:

„Wie sah sie denn aus, deine Frau?“

„Schön sah sie aus.“ sagte der Bauer und fing an, sie vom Kopf bis zu den Füssen zu beschreiben. Keine Wölbung, keine Vertiefung ihres Körpers ließ er aus.

Der Alte hörte zu, machte seinen Pinsel mit Spucke nass und begann, auf dem Papier zu malen, und hielt erst an, als der Bauer zu Ende erzählt hatte. Und siehe, auf dem Papier hatte er eine Frau gemalt, die haargenau wie die Verstorbene aussah.

Die Kinder hatten zu weinen aufgehört. Staunend sahen sie das Bild an und lächelten. Aber der Alte schob die Kinder beiseite. Er drehte das Bild um, leckte wieder die Pinselspitze an und malte mit schnellen Strichen einen großen Tiger. Dann schwenkte er das Blatt und sagte zu dem Bauern: „Häng es an die Wand!“ Im selben Augenblick rutschte er von der Ofenbank und war verschwunden.

Der Bauer stand lange wie versteinert mit dem Bild in der Hand da. Es wurde dunkel. Da zündete er die Lampe an und hängte das Bild an die Wand. Die Kinder lachten und winkten zu dem Bild hinauf: „Mama, Mama, komm doch herunter, Mama!“

Der Bauer stand hinter den Kindern und lächelte auch. Er wurde immer froher, je länger er seine Frau auf dem Bildnis ansah. Da war ihm auf einmal, als hätten sich ihre Augen bewegt, nun zog sich ihr Mund in die Breite, und sie lächelte zurück, und schließlich lachte sie laut heraus. Das Bild an der Wand fing an zu schwanken, und die Frau trat heraus.

Sie umarmte ihre Kinder, wandte sich an ihren Mann und fragte: „Was starrst du mich so an, sind wir nicht schon lange genug verheiratet, dass du dich hättest satt sehen können?

„Ja“ stotterte der Mann, „bist du, bist du denn nicht tot?“

„Ich bin quicklebendig, warum sollte ich tot sein? Wer soll sich denn sonst um die Kinder kümmern, ohne mich? Wir wollten doch in Freude und Eintracht alt werden.“

„Ja richtig“, stimmte der Bauer zu, „aber wir müssen jetzt auf der Hut sein vor diesem Dschang. Raubt er dich noch einmal, halte ich das nicht aus.“

„Hab keine Angst.“, sagte die Frau, „Er weiß nicht, dass ich wieder lebe.“

Das blieb aber nicht lange verborgen, und so erfuhr es auch der böse Dschang.

„Wie?“, wunderte er sich, „sie lebt? Diese Widerspenstige, die mir nicht gehorchen wollte, lebt? Sah ich sie nicht totgeschlagen am Boden liegen? Gut, lebt sie wieder, hol ich sie mir wieder.“

Der Bauer war gerade vom Feld gekommen und hatte die Hacke an die Wand gestellt, die Frau hatte die Reisschüsseln gefüllt und die Kinder saßen schon am Tisch, da sahen sie den Dschang mit seinen Raufbolden kommen. Dem Bauern wurde es rot vor Augen, aber seine Frau fasste ihn ruhig am Ärmel und sagte: „Hol das Bild her.“

Eben wollte der Dschang zum Tor eindringen, da brachte der Bauer das Bild. Die Frau hielt eine Flamme daran, und das Bild fing prasselnd Feuer. Das Feuer blitzte auf, und ein riesiger Tiger sprang heraus, packte den grausamen Dschang mit dem Maul und stürzte davon, den fliehenden Spießgesellen hinterher.

So war’s; und was dann wurde? Den Mandarin Dschang hat man nie wieder gesehen. Der Bauer aber lebte mit seiner schönen Frau und den beiden Kindern in Frieden und Eintracht, und es ging ihnen von Tag zu Tag besser.

 

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Eine Antwort auf Das Bild

  • Sehr geehrter Herr von Loeper,

    ich bin begeistert von den Märchen auf Ihrer Website!
    Auf der Suche nach einem Spucke-Märchen für einen Märchenabend zum Thema “Tränen, Blut und Spucke” bin ich auf Ihrer Website gelandet, denn es ist gar nicht so einfach, ein schönes Spucke-Märchen zu finden. Dieses Märchen ist außergewöhnlich und wunderschön.

    Herzliche Grüße
    Bettina von Hanffstengel

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