Der Clown Gottes

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Velazquez (um 1636)

Legende aus Italien:

Es war einmal vor langer, langer Zeit, da lebte im Städtchen Sorrent ein kleiner Junge, der Giovanni hieß. Er hatte keinen Vater und keine Mutter mehr und war in Lumpen gekleidet. Für sein tägliches Brot musste er betteln, und er schlief unter Brücken und in Hauseingängen. Aber Giovanni war glücklich, denn er konnte etwas ganz Besonderes.

Er konnte jonglieren. Jeden Tag ging er zu dem großen Marktstand mit Gemüse und Früchten des Signor Baptista, um dort seine Kunst zu zeigen.

Er konnte mit Zitronen und Orangen jonglieren, und auch mit Äpfeln und Auberginen, ja sogar mit Gurken, und immer kamen viele Leute, um zuzuschauen; und wenn Giovanni seine Kunst gezeigt hatte, kauften sie bei Signor Baptista Gemüse und Früchte. Dann gab die Frau des Signor Baptista Giovanni einen Napf mit warmer Suppe. Und so waren alle zufrieden.

Eines Tages kam eine fahrende Gauklertruppe in die Stadt, und Giovanni schaute zu, wie sie in ihren prächtigen Kleidern tanzten und sangen.

»Oh«, sagte sich Giovanni »so möchte ich auch leben.«

Und als die Vorstellung zu Ende war, ging Giovanni zum Maestro. »Nein, nein«, sagte der Maestro, »mit Landstreichern will ich nichts zu tun haben. Geh woanders betteln.«

»Aber ich bin sehr geschickt«, sagte Giovanni hartnäckig. »Ich kann beim Ein-und Auspacken helfen. Und ich kann mich um die Esel kümmern. Und außerdem, Maestro«, fügte Giovanni hinzu, »ich kann jonglieren.«

Und er zeigte seine Kunst.

»Nicht schlecht«, meinte der Maestro, als er Giovanni zuschaute.

»Mit etwas mehr Übung … Gut, komm mit uns, aber du bekommst kein Geld. Du bekommst nur einen Schlafplatz und einen Teller mit Essen. Du bist jetzt schließlich bei den besten Gauklern von ganz Italien.«

»Vielen Dank«, sagte Giovanni. »Geh und hole deine Sachen. In einer Stunde reisen wir ab«, fügte der Maestro noch hinzu. Da verabschiedete sich Giovanni von Signor und Signora Baptista und ging mit der Truppe auf Reisen.

Schon bald bekam Giovanni vom Maestro ein Kostüm, und nun jonglierte er vor Publikum. Er malte sich ein Clownsgesicht, stellte sich vor dem Beginn der Vorstellung vor den Vorhang, verbeugte sich, öffnete einen bunten Sack, rollte einen Teppich aus und begann. Er jonglierte mit Stöcken und Tellern. Dann legte er die Teller auf die Stöcke und ließ sie sich drehen. Er jonglierte mit Keulen und Ringen und sogar mit brennenden Fackeln.

Schließlich warf er einen roten und einen orangefarbenen Ball hoch. Dann einen gelben Ball, und dann einen grünen, einen blauen und einen violetten, bis es so aussah, als jongliere er mit dem Regenbogen.

»Und jetzt die Sonne an den Himmel!«, rief er. Während er weiterjonglierte, nahm er einen goldglänzenden Ball und warf ihn höher und höher, schneller und schneller. Und das Publikum jubelte ihm zu.

Giovanni wurde sehr berühmt, und es dauerte nicht lange, da nahm er Abschied von der fahrenden Truppe und machte sich selbständig. Er reiste durch ganz Italien, und obwohl sein Kostüm immer schöner wurde, behielt er doch stets sein Clownsgesicht.

Einen Tag jonglierte er vor einem Herzog, am anderen vor einem Prinzen. Doch er tat stets dasselbe: Erst die Stöcke, dann die Teller, dann die Keulen, die Ringe und brennenden Fackeln. Und ganz zum Schloss den Regenbogen aus bunten Bällen.

»Und jetzt die Sonne an den Himmel!«, rief er, und der goldene Ball stieg höher und höher, und das Publikum lachte und applaudierte und jubelte.

Eines Tages saß Giovanni am Weg zwischen zwei Städten im Schatten eines Baumes und aß Brot mit Käse, als zwei Mönche vorbeikamen.

»Sag, guter Clown, willst du deine Mahlzeit mit uns teilen?«, fragten sie ihn. »Gott möge es dir lohnen und Bruder Franziskus möge dich segnen!«

»Setzt euch nur, Brüder«, sagte Giovanni. »Ich habe mehr als genug.«

Während die drei Männer da saßen und aßen, erzählten die Mönche, wie sie von Stadt zu Stadt zogen, um Essen bettelten und die Freude unseres lieben Herrgotts predigten.

»Unser Stifter, Bruder Franziskus, sagt, alles lebe zur Mehrung der Glorie unseres lieben Herrn. Und auch du mit deinen Jonglierkünsten«, fügte einer der beiden hinzu.

»Das gilt vielleicht für Leute wie euch, doch ich jongliere nur, um die Leute so fröhlich zu machen, dass sie klatschen«, sagte Giovanni.

»Das ist dasselbe«, antworteten die Mönche. »Wenn du die Menschen glücklich machst, trägst du bei zur Glorie unseres lieben Herrn.«

»Wenn ihr es sagt«, meinte Giovanni lachend, »dann wird es wohl stimmen. doch jetzt muss ich weiter zur nächsten Stadt. Arrivederci, gute Brüder, und viel Erfolg!«

Und wo Giovanni auch hinkam, überall flogen seine Teller und Stöcke, seine Keulen und Ringe und Fackeln durch die Luft. Und immer folgte darauf sein Regenbogen aus Bällen und »die Sonne am Himmel«!

Und wo Giovanni auch hinkam, überall mussten die Leute lachen, und ihr Lachen und Jubeln hallte durch die Städte.

Jahre vergingen. Giovanni wurde alt, und es kamen schwere Zeiten. Die Menschen blieben nicht mehr stehen, um zuzuschauen.

»Ach, das ist der alte Clown wieder, der immer jongliert. Den haben wir schon gesehen«, sagten sie.

Giovanni war unglücklich, aber er jonglierte immer weiter, bis er eines Tages »die Sonne am Himmel« fallen ließ und der Regenbogen aus Bällen herunterstürzte und die Zuschauer zu lachen begannen. Doch diesmal lachten sie nicht aus Freude. Und dann taten sie etwas Schreckliches. Sie bewarfen Giovanni mit Gemüse und Steinen, so dass er um sein Leben laufen musste.

An einem Bach wusch sich Giovanni seine Clownsmaske ab. Er packte seine Stöcke und Teller ein und auch seine Keulen und Ringe und die bunten Bälle. Er steckte sein Kostüm ein und hörte auf zu jonglieren. Für immer.

Sein bisschen Geld war schon bald verbraucht, aus seinen Kleidern wurden Lumpen, und er musste sich sein Essen erbetteln, und er schlief wieder unter Brücken und in Hauseingängen, genau wie in seiner Jugend.

»Es ist Zeit, nach Hause zugehen«, sagte sich der alte Mann. Und er machte sich auf den Weg nach Sorrent. Es war ein kalter Winterabend, als er schließlich in der Stadt ankam. Es wehte ein starker Wind, und es fiel eiskalter Regen.

Hoch über ihm ragte die Klosterkirche der Mönche empor. Die Fenster waren dunkel. Der alte Giovanni kroch nass und verfroren hinein und fiel in einer Ecke in Schlaf.

Musik weckte ihn auf. Die Kirche glänzte im Kerzenlicht und war voller Menschen, die Gloria, Gloria sangen. Giovanni konnte kaum seinen Augen trauen. So viel Pracht. Eine lange Reihe von Mönchen, Priestern, Nonnen und Menschen aus der Stadt schlängelte sich durch die Kirche. Jeder hatte ein kostbares Geschenk bei sich, das er vor einem Bild niederlegte – dem Bild einer Frau mit ihrem Kind.

»Was geht hier vor? «, fragte Giovanni eine Frau, die dicht neben ihm stand.

»Nun, alter Mann, heute ist der Geburtstag des heiligen Kindleins«, antwortete die Frau. »Und in der Prozession bringt ihm jeder seine Geschenke.«

Überrascht schaute Giovanni zu, bis die Prozession beendet war. Alle Leute verließen wieder die Kirche, und es wurde dunkel, nur nicht beim Bild der Frau mit dem Kind, denn das war umringt von brennenden Kerzen. Giovanni ging näher heran. Das Kind auf dem Schoß der Frau sah so ernst und streng aus.

»Oh«, sagte Giovanni, »ich wollte, ich hätte auch etwas, was ich dir geben könnte. Dein Kind sieht so betrübt aus, trotz all dieser schönen Geschenke. Doch warte, früher brachte ich die Leute immer zum Lachen.«

Giovanni öffnete den Sack, den er bei sich hatte, und holte sein altes Kostüm heraus. Dann malte er sich die Clownsmaske, rollte den Teppich aus und begann zu jonglieren. Erst die Stöcke. Dann die Teller. Dann ließ er die Teller auf den Stöcken drehen. Und dann jonglierte er mit den Keulen und den Ringen. Bruder Portier, der gerade die Türen der Kirche schließen wollte, sah Giovanni jonglieren. Er rannte davon, um den Priester zu holen. Aber davon merkte Giovanni nichts.

»Und nun«, sagte Giovanni lachend zu dem Kind, »erst der rote Ball, dann der orangefarbene, dann der gelbe … und der grüne, der blaue und der violette.«

Giovanni wirbelte die Bälle immer höher und schneller durcheinander, bis sie wie ein Regenbogen aussahen.

»Und jetzt«, rief Giovanni, »die Sonne an den Himmel!«

Der goldene Ball drehte und drehte sich höher und höher.

Giovanni hatte in seinem ganzen Leben noch nie so gut jongliert. Höher und schneller, schneller und schneller. Die Farben tanzten durch die Luft. Es war ein prächtiges Bild. Giovannis Herz pochte.

»Für dich, liebes Kind, für dich!«, rief er.

Plötzlich hörte sein altes Herz zu schlagen auf. Giovanni sank tot zu Boden. Der Priester und der Bruder Portier kamen herein. Der Priester beugte sich über den alten Mann und sagte: »Ach, der alte Clown ist tot. Möge seine Seele ruhen in Frieden!«

Aber Bruder Portier wich zurück und starrte mit offenem Mund auf das Bild der Frau mit dem Kind. »Seht nur« rief er und deutete mit der Hand darauf, »seht nur!« Das Kind lächelte, und in seiner Hand hielt es den goldenen Ball.

Legende aus Italien

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